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Noch mehr Unsicherheit bei Massenentlassungen

Europäischer Gerichtshof vom 9. Juli 2015 – C-229/14

Sachverhalt: Vor dem Arbeitsgericht Verden wurde um eine betriebsbedingte Kündigung gestritten. Der Gekündigte machte geltend, dass die erforderliche Massenentlassungsanzeige zu Unrecht unterblieben sei. Streitig war, ob der Arbeitgeber mehr als 20 Arbeitnehmer beschäftigte und damit einer Anzeigepflicht nach § 17 Abs. 1 KSchG unterlag. Würde man den Geschäftsführer und eine Praktikantin beide als Arbeitnehmer betrachten, wäre der Schwellenwert von 20 Arbeitnehmern erreicht. Das Arbeitsgericht legte dem EuGH die Frage vor, wer im Kontext einer Massenentlassung als „Arbeitnehmer“ anzusehen ist.

Die Entscheidung: Der EuGH kam zum Ergebnis, dass mit Blick auf die Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff zugrunde zu legen sei. Dieser umfasse auch Geschäftsführer, die Weisungen unterliegen, keine Anteile besitzen und jederzeit abberufen werden können. Auch Praktikanten seien in diesem Sinne Arbeitnehmer. Generell sei der Arbeitnehmerbegriff weit zu verstehen und dürfe nicht durch nationales Recht definiert werden, da sonst auch der Anwendungsbereich der Richtlinie zur Disposition der einzelnen Mitgliedstaaten stünde.

Konsequenzen für die Praxis: Arbeitgeber müssen zukünftig bei Personalabbaumaßnahmen genau prüfen, wer zur Erreichung des Schwellenwerts beiträgt und bei der Zahl der zu Entlassenden daran denken, alle Gruppen mitzuzählen, die europarechtlich als „Arbeitnehmer“ gelten können. Neben dem Fremdgeschäftsführer wird dies auch ein Minderheitsgesellschafter-Geschäftsführer sein; neben Praktikanten auch „Ein-Euro-Jobber“, Heimarbeiter etc. Legt man einen „falschen“ Arbeitnehmerbegriff zugrunde, können u. U. alle Kündigungen unwirksam sein.

Es empfiehlt sich daher, in Massenentlassungsanzeigen alle Betriebsangehörigen mit ausdrücklicher Angabe ihrer Position zu nennen. Einmal mehr zeigt sich, dass der klare Wortlaut nationaler Gesetze – hier: § 17 Abs. 5 des Kündigungsschutzgesetzes – aus europarechtlichen Gründen unmaßgeblich sein kann. Der EuGH behält sich eine weite Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs – wie schon in der Rechtssache Danosa (C-232/09), bei der sich eine Geschäftsführerin auf arbeitsrechtliche Mutterschutzregeln berufen hat – vor und erklärt ggf. auch diejenigen für schützenswert, die nach nationalem Recht als nicht schutzbedürftig gelten. Auch vermeintlich eindeutige nationalrechtliche Anknüpfungen an den Arbeitnehmerbegriff sollten daher immer darauf geprüft werden, ob europarechtlich ein anderes Verständnis möglich erscheint und u. U. zum Tragen kommt.

Bei Fragen zum Thema kontaktieren Sie bitte: Dr. Franziska v. Kummer

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