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Voraussetzungen der Aufhebung eines Vergabeverfahrens wegen mangelnder Finanzierbarkeit

Das OLG Düsseldorf hat in einem Beschluss vom 29. August 2018 (VII-Verg 14/17) die Voraussetzungen für die Aufhebung einer Ausschreibung wegen mangelnder Finanzierbarkeit gemäß § 17 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A a.F. anschaulich dargelegt. Insbesondere die an eine ordnungsgemäße Kostenschätzung zu stellenden Anforderungen werden instruktiv aufbereitet. Zwar bezieht sich die Entscheidung auf eine Bauvergabe, jedoch lassen sich auch für den Bereich der Vergabe von Liefer- und Dienstleistungen Rückschlüsse für die Erstellung einer belastbaren Kostenschätzung ziehen, die eine rechtmäßige Aufhebung des Vergabeverfahrens im Streitfall trägt.

Der Sachverhalt

Der Entscheidung des OLG Düsseldorf liegt eine EU-weite Ausschreibung zur Vergabe von Bauleistungen für den Abbruch und Neubau einer Brücke zugrunde. Die Gesamtkosten für das Projekt schätzte die öffentliche Auftraggeberin, eine Kommune in NRW (nachfolgend „Auftraggeberin“), aufgrund einer konkreten Kostenschätzung auf EUR 8.026.749. Ende 2014 schrieb die Auftraggeberin die Baumaßnahme im offenen Verfahren aus, wobei der Zuschlag auf das Angebot mit dem niedrigsten Preis erfolgen sollte. Im Ergebnis der Submission stellte sich heraus, dass das erstplatzierte Angebot, das die Antragstellerin abgab, mit EUR 9,3 Mio. rund 12 Prozent über den geschätzten Gesamtkosten lag. In der Folge hob die Auftraggeberin das Vergabeverfahren auf der Grundlage von § 17 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A a.F. auf. Die Auftraggeberin begründete die Aufhebung mit der mangelnden Finanzierbarkeit des Vorhabens aufgrund fehlender Haushaltsmittel.

Einer Rüge gegen die Aufhebungsentscheidung half die Auftraggeberin nicht ab, woraufhin die Antragstellerin einen Nachprüfungsantrag bei der Vergabekammer stellte. Zur Begründung trug sie im Wesentlichen vor, dass die Aufhebung nicht rechtmäßig sei, da die Auftraggeberin keine ordnungsgemäße Kostenschätzung vorgenommen und es insbesondere versäumt habe, einen beträchtlichen Sicherheitsaufschlag i. H. v. insgesamt 20 Prozent auf die geschätzten Kosten vorzunehmen.

Die Auftraggeberin beantragte die Zurückweisung des Nachprüfungsantrages. Sie trug vor, dass sie eine ordnungsgemäße Kostenschätzung vorgenommen und mit 10 Prozent einen ausreichenden Sicherheitszuschlag berücksichtigt habe. Die Vergabekammer bestätigte die Rechtmäßigkeit der Aufhebung des Vergabeverfahrens und wies den Nachprüfungsantrag zurück.

Gegen diesen Beschluss legte die Antragstellerin sofortige Beschwerde zum OLG Düsseldorf ein.

Die Entscheidung

Das OLG Düsseldorf schloss sich in seiner Entscheidung der Vergabekammer an: Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin sei nicht begründet. Die mangelnde Finanzierbarkeit des Vorhabens stelle einen anderen schwerwiegenden Grund gemäß § 17 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A a.F. dar.

Zu den Voraussetzungen des Aufhebungsgrundes führte das OLG Düsseldorf aus, dass für die Feststellung eines anderen schwerwiegenden Grundes stets eine Interessensabwägung geboten sei: Die Überschreitung der bereitgestellten Haushaltsmittel könne die Aufhebung einer Ausschreibung nur dann rechtfertigen, wenn die Umstände, die zur mangelnden Finanzierbarkeit führten, nicht vorhersehbar waren, hierdurch die Finanzierbarkeit in nicht unwesentlichem Umfang berührt sei und keine milderen Mittel zur Verfügung stünden.

Im Ergebnis stellte das OLG Düsseldorf fest, dass diese Voraussetzungen gegeben seien, da zum Zeitpunkt der Aufhebung der Ausschreibung eine Finanzierungslücke vorgelegen habe und diese nicht auf einen Fehler der Auftraggeberin bei der Ermittlung des Finanzbedarfs zurückzuführen sei. Die Finanzierungslücke habe bestanden, da die Auftraggeberin überschuldet war und keine zusätzlichen Haushaltsmittel bereitstellen konnte.

Darüber hinaus sei die Finanzierungslücke nicht auf Fehler der Auftraggeberin bei der Ermittlung des Finanzbedarfs rückführbar; es sei nicht absehbar gewesen, dass ein Sicherheitszuschlag von 10 Prozent zur Finanzierung des Vorhabens nicht ausreiche. Insbesondere sei der Finanzierungsbedarf in einer methodisch vertretbaren Weise ermittelt worden:

Die Kosten für den Teil 1 des Vorhabens (Lärmschutzwand) wurden vom Amt für Straßen und Verkehr der Auftraggeberin aufgrund der durchschnittlichen Einheitspreise aus Preisspiegeln zweier Ausschreibungen der Auftraggeberin aus der Vergangenheit ermittelt. Der Vergabesenat des OLG Düsseldorf hielt die Kostenermittlung für belastbar, da die Vorhaben vergleichbar, die aktuellen Marktpreise für Material zugrunde gelegt und Zuschläge für marktbedingte Kostensteigerungen berücksichtigt worden seien.

Für den Teil 4 des Vorhabens (Neubau der Brücke) wurden die Kosten nach Ansicht des OLG Düsseldorf ebenfalls vertretbar kalkuliert. Das für diesen Teil der Maßnahme mit der Kostenermittlung beauftragte Ingenieurbüro ermittelte zunächst die für den Neubau erforderliche Massen, Gewichte und Mengen und erstellte auf dieser Grundlage ein Leistungsverzeichnis. Für besondere technische Risiken wurden zusätzliche Positionen in das Leistungsverzeichnis aufgenommen. Die Einheitspreise bei der Kostenschätzung ermittelte das Ingenieurbüro auf der Grundlage von Erfahrungswerten, Richtpreisabfragen und Erkenntnissen aus Vergleichsprojekten. Als solche wurden insbesondere vergleichbare Brückenbauprojekte herangezogen, wobei das Alter der Bauprojekte und die jeweiligen Marktverhältnisse kalkulatorisch ebenso Berücksichtigung fanden, wie GU-Zuschläge, Baustellengemeinkosten und allgemeine Geschäftskosten.

Hinsichtlich der Tatbestandsvoraussetzungen des § 17 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A a. F. führte das Gericht aus, dass auch eine ordnungsgemäße Ermittlung des Finanzierungsbedarfs die Aufhebung des Verfahrens wegen mangelnder Finanzierbarkeit nur dann tragen könne, wenn ein Sicherheitsaufschlag auf die geschätzten Kosten vorgenommen werde. Denn die Auftraggeberin könne nicht davon ausgehen, dass die Bieter die Kosten in gleicher Höhe oder niedriger kalkulieren würden. Vielmehr könnten die Angebote erfahrungsgemäß von der Kostenschätzung erheblich abweichen. Wie der Sicherheitsaufschlag vorzunehmen sei, stehe dem öffentlichen Auftraggeber dabei frei: Der Zuschlag könne auf die einzelnen veranschlagten Mengen und Einheitspreise oder ausdrücklich als prozentualer Aufschlag auf die geschätzten Gesamtkosten vorgenommen werden.

Zur Höhe des vorzunehmenden Sicherheitsaufschlags stellte das Gericht fest, dass dieser von den Umständen des Einzelfalls abhinge. Jedoch sei grundsätzlich kein „beträchtlicher Aufschlag“ vorzunehmen. Dieses vom BGH (Urteil vom 20.11.2012, X ZR 108/10) aufgestellte Erfordernis gelte nur im Hinblick auf die Feststellung eines unwirtschaftlichen Ausschreibungsergebnisses, stelle aber keine allgemeine Anforderung an die Kostenschätzung dar.

Vorliegend hatte die Auftraggeberin einen Sicherheitsaufschlag von 10 Prozent vorgenommen. Das Angebot der Antragstellerin lag 12 Prozent über der ordnungsgemäßen Kostenschätzung. Die sich hieraus ergebende Finanzierungslücke berühre nach Ansicht des Gerichts die Finanzierbarkeit des Bauvorhabens in nicht unwesentlichem Umfang.

Das OLG Düsseldorf folgte nicht der von der Antragstellerin vertretenen Auffassung, dass über einen Sicherheitsaufschlag von 10 Prozent ein weiterer Sicherheitsaufschlag von 10 Prozent vorzunehmen sei, denn dies liefe im Ergebnis auf einen vorzunehmenden Sicherheitsaufschlag i. H. v. 20 Prozent hinaus. Bei einer Überschreitung der ordnungsgemäßen Kostenschätzung in dieser Höhe sei vielmehr daran zu zweifeln, ob überhaupt ein wirtschaftlich akzeptables Angebot vorläge; für eine ordnungsgemäße Kostenschätzung sei ein solcher Aufschlag hingegen nicht erforderlich.

Schließlich betonte das Gericht, dass das Vorliegen eines gesetzlichen Aufhebungsgrundes nicht automatisch zur Verfahrensaufhebung führe. Vielmehr müsse der öffentliche Auftraggeber das ihm eingeräumte Aufhebungsermessen ordnungsgemäß ausüben und unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit prüfen, ob mildere Alternativmaßnahmen zur Aufhebung in Betracht kämen und ob die Aufhebung des Verfahrens als Ganzes gerechtfertigt sei. Grundsätzlich sei jedoch das Ermessen von öffentlichen Auftraggebern in Ansehung fehlender Haushaltsmittel erheblich eingeschränkt, da öffentliche Aufträge nur vergeben werden dürften, wenn sie haushaltsrechtlich abgesichert sind.

Praxishinweise

Zwar bezieht sich die Entscheidung auf § 17 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A in der Fassung vor Umsetzung der Richtlinie 2014/24/EU, nichtsdestoweniger ist sie sowohl im Hinblick auf die VOB/A 2016, als auch für den Anwendungsbereich der VgV und der UVgO relevant: Der Auffangtatbestand „andere schwerwiegende Gründe“ ist sowohl in § 17 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A 2016, als auch in § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 VgV und § 48 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 UVgO im Wesentlichen gleich gefasst.

Die mangelnde Finanzierbarkeit eines Vorhabens ist als Aufhebungsgrund vom Auffangtatbestand des § 17 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A umfasst. Dies entspricht der ständigen vergaberechtlichen Rechtsprechung (BGH, Urteil vom 08.09.1998, X ZR 99/96; BGH, Urteil vom 20.11.2012, X ZR 108/10). Voraussetzungen für die Aufhebung der Ausschreibung sind die nicht vorhersehbare mangelnde Finanzierbarkeit und dass die Finanzierungslücke das Vorhaben in nicht unwesentlichem Umfang berührt. Die Finanzierungslücke darf also nicht auf Fehler des öffentlichen Auftraggebers bei der Ermittlung des Finanzbedarfs und der Mittelbereitstellung rückführbar sein.

Wesentlich für die Praxis der öffentlichen Auftragsvergabe sind die Ausführungen des OLG Düsseldorf im Hinblick auf die Vornahme einer belastbaren Kostenschätzung:

Zunächst muss die Kostenschätzung im Hinblick auf den Ausschreibungsgegenstand angemessen sein. Das heißt, dass die vom öffentlichen Auftraggeber vorzunehmende Kostenschätzung in ihrem Detaillierungsgrad dem Gegenstand und der Komplexität des Vorhabens gerecht werden muss. Ebenso muss die konkrete Methode der Kostenschätzung sich am ausgeschriebenen Leistungsinhalt und den Vergütungsmodalitäten orientieren. Hier kann es bspw. zu erheblichen methodischen Unterschieden zwischen der Auftragswertschätzung von Planungsleistungen auf Grundlage der HOAI und anderen Dienstleistungen kommen, für die kein bindendes Honorarrecht besteht.

In jedem Fall gilt es zu beachten, dass die Kostenschätzung anhand richtiger Daten erstellt wird. Es dürfen nicht pauschal Werte herangezogen werden, die auf anderen Kalkulationsgrundlagen beruhen. Das heißt, dass die Schätzgrundlage und die ausgeschriebene Maßnahme vergleichbar sein müssen. Wird die Kostenschätzung bspw. auf der Grundlage von Referenzvorhaben vorgenommen, ist es entscheidend, dass diese mit dem geplanten Vorhaben im Hinblick auf Umfang und Komplexität vergleichbar sind. Vorhersehbare Kostenentwicklungen und Kostenunterschiede zwischen dem geplanten Vorhaben und den referenzierten Projekten sind ebenfalls zu berücksichtigen. Wenn öffentliche Auftraggeber für die Auftragswertschätzung bspw. einen durchschnittlichen Preisspiegel aus vergangenen, vergleichbaren Ausschreibungen heranziehen, sind allgemeine wie auch spezifische Preissteigerungen zu berücksichtigen und als Aufschläge mit einzukalkulieren. Zwar stellt das OLG Düsseldorf klar, dass entsprechende Aufschläge nicht gesondert kalkulatorisch darzulegen sind, ein solches Vorgehen bietet sich jedoch im Sinne einer eindeutigen Dokumentation an.

Ebenfalls dokumentiert werden sollte im Rahmen der Kostenschätzung, dass etwaige Eventualitäten und Risiken, die bei dem geplanten Vorhaben auftreten könnten, berücksichtigt werden.

Bezogen auf den pauschal vorzunehmenden kostenmäßigen Sicherheitsaufschlag stellt das OLG in für die Praxis begrüßenswerter Eindeutigkeit klar, dass in der Regel ein Sicherheitsaufschlag von 10 Prozent auf eine ordnungsgemäß erstellte Kostenschätzung ausreichend ist. Ein über die 10 Prozent hinausgehender „beträchtlicher“ Sicherheitszuschlag muss grundsätzlich nicht vorgenommen werden.

Das OLG Düsseldorf hat schließlich noch einmal betont, dass auch wenn ein Aufhebungsgrund tatbestandlich vorliegt, dies keinen Auflösungsautomatismus auf Rechtsfolgenseite auslöst, sondern dem öffentlichen Auftraggeber vielmehr ein Ermessen eröffnet. Im Rahmen der gebotenen Interessensabwägung hat der öffentliche Auftraggeber zu prüfen, ob mildere Alternativmaßnahmen zur Schließung der Finanzierungslücke in Betracht kommen. Denkbar wäre bspw. eine Teilaufhebung des Verfahrens, wenn hierdurch die Finanzierbarkeit des Vorhabens gesichert werden kann. In jedem Fall ist die vorgenommene Interessensabwägung zu dokumentieren.

Die Entscheidung zeigt die grundlegende Bedeutung einer belastbaren Kostenschätzung im Hinblick auf die vergaberechtlichen Aufhebungstatbestände. Denn auch wenn ein Verfahren wegen eines unwirtschaftlichen Ergebnisses aufgehoben werden soll, steht und fällt die Rechtmäßigkeit der Verfahrensaufhebung mit der Kostenschätzung. Stellt sich heraus, dass die Kostenschätzung den Aufhebungsgrund nicht trägt, setzt sich der öffentliche Auftraggeber unter Umständen einem Schadensersatzrisiko aus.

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