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Kartellrecht 4.0 – Risiken vernetzter Systeme

Dem Recht wird oft vorgeworfen, nicht mit den technischen Entwicklungen Schritt zu halten. Das „Eturas“-Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 21. Januar 2016 zeigt demgegenüber schon jetzt, wie die Antwort des Europäischen Kartellrechts auf eine vernetzte Wirtschaft und die Industrie 4.0 aussehen wird. Dabei betont es die Unschuldsvermutung zugunsten von mutmaßlich kartellbeteiligten Unternehmen.

Sachverhalt

30 litauische Reisebüros verwenden die Software Eturas als Online-Reisebuchungssystem. Wohl auf Anregung mehrerer Reisebüros, begrenzte der Eturas-Systemadministrator im August 2009 die voreingestellte mögliche Spanne für Buchungsrabatte auf 0 Prozent bis 3 Prozent. Er informierte die Reisebüros über den systemeigenen Mitteilungsdienst. Einen höheren Rabattsatz, z. B. die zuvor üblichen 4 Prozent fur Internetbuchungen, konnten die Reisebüros fortan nur mithilfe zusätzlicher technischer Maßnahmen gewähren.

Der litauische Wettbewerbsrat verhängte daraufhin Geldbußen gegen die Reisebüros und den Softwareanbieter Eturas. Die Behörde ging von einer konkludenten Zustimmung der Reisebüros zur Begrenzung der Preisnachlässe aus und wertete dies als verbotene abgestimmte Verhaltensweise. Der anschließend angerufene Oberste Verwaltungsgerichtshof von Litauen legte den Fall dem Europäischen Gerichtshof vor.

Entscheidung

Der Europäische Gerichtshof betont einmal mehr, dass Unternehmen ihre Geschäftspolitik selbstständig zu bestimmen haben. Selbst eine nur mittelbare Fühlungnahme zu Wettbewerbern oder eine nur passive Teilnahme kann genügen, um die Verantwortlichkeit eines Unternehmens für eine kartellrechtliche Zuwiderhandlung zu begründen. Ein Unternehmen ist jedoch nicht für ein wettbewerbsbeschrankendes Verhalten verantwortlich, wenn es dieses weder kannte noch (stillschweigend) billigte. Für die Reisebüros bedeutet das, dass ihre Beteiligung nicht allein aus der Existenz der technischen Beschränkung der Rabattgewährung abgeleitet werden darf, sondern es weiterer Indizien für ihre Beteiligung bedarf.

Dabei richten sich das Beweismaß und die Beweiswürdigung nach nationalem Recht. Dessen Anwendung muss allerdings die unionsrechtlich verbürgte Unschuldsvermutung einhalten. Die Unschuldsvermutung versagt es nationalen Gerichten und Wettbewerbsbehörden, das bloße Versenden einer Mitteilung an ein Unternehmen als Beweis dafür zu werten, dass jenes Unternehmen den Mitteilungsinhalt kannte oder kennen musste. Das kann vielmehr nur vermutet werden, wenn weitere Indizien hinzutreten. An die Widerlegung dieser Vermutung dürfen sodann keine unrealistischen Anforderungen gestellt werden. So können die Reisebüros die Vermutung widerlegen, indem sie nachweisen, dass sie die Änderungsmitteilung nicht erhalten haben oder den Eturas-Mitteilungsdienst erst nach gewisser Zeit eingesehen haben.

Allgemein kann ein Unternehmen die Vermutung seiner Beteiligung widerlegen, wenn es sich von der Verhaltensweise öffentlich distanziert oder sie bei den Behörden angezeigt hatte. Unter den besonderen Umständen des Eturas-Systems akzeptiert der Europäische Gerichtshof auch eine Distanzierung nur gegenüber dem Eturas-Systemadministrator. Er berücksichtigt damit, dass die Reisebüros nicht alle anderen Eturas-Nutzer kennen können. Auch gesteht der Gerichtshof den Reisebüros zu, ihre Beteiligung zu widerlegen, indem sie nachweisen, systematisch höhere Preisnachlässe als die voreingestellten 0 Prozent bis 3 Prozent gewährt zu haben.

Bewertung

Der Effektivitätsgrundsatz verlangt, dass das nationale Recht der EU-Mitgliedstaaten dem Unionsrecht umfassend Geltung verschafft. Das „Eturas“-Urteil stellt klar, dass nationale Wettbewerbsbehörden und Gerichte stets auch die unionsrechtlichen Gewährleistungen zugunsten von Unternehmen, wie die Unschuldsvermutung, beachten müssen. Es beugt damit einer falsch verstandenen Effektivität des Europäischen Kartellrechts vor.

Wo Dritte eine Wettbewerbsbeschränkung veranlassen, ist die Kenntnis des Unternehmens für seine kartellrechtliche Verantwortlichkeit zentral. Die bloße Eröffnung eines Kommunikationswegs genügt hingegen noch nicht für eine widerlegliche Vermutung der Kenntnisnahme. Diese willkommene Aussage darf jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass die Schwelle für eine Vermutung der Kenntnisnahme in der Praxis nicht allzu hoch sein dürfte. So wird wohl etwa die Reaktion auf frühere Mitteilungen genügen, um eine Vermutung zulasten des Unternehmens zu begründen.

Angesichts der Besonderheiten des Falls handhabt der Europäische Gerichtshof seine herkömmlichen Vorgaben zur kartellrechtlichen Verantwortlichkeit flexibel. Insbesondere lässt er eine Distanzierung nur gegenüber dem Eturas-Systemadministrator zur Widerlegung des Anscheins der Kartellbeteiligung zu. Damit gewährt er den Reisebüros mehr Exkulpationsmöglichkeiten als bei Fällen mit direkten Wettbewerberkontakten üblich. Diese Aussage lässt sich mühelos auf weitere Arten indirekter Wettbewerberkontakte übertragen: So weiß ein Unternehmen in sog. hub and spoke-Konstellationen mitunter nicht, an wen seine Informationen weitergereicht wurden. Für solche Fälle baut der Gerichtshof Unternehmen eine neue Brücke zur Legalität.

Hintergrund

IT-Systeme können im Rahmen von Kartellen bei der Kommunikation, der Umsetzung und der Überwachung eine Rolle spielen. Denkbar ist auch, dass dereinst intelligente Systeme ohne menschliches Zutun Kartelle bilden. Schon heute werden etwa im Wertpapierhandel oder Flugvertrieb die Preise von Algorithmen bestimmt.

Man stelle sich vor, nicht der Eturas-Systemadministrator, sondern die Software selbst hätte die Entscheidung zur Beschränkung der Rabatte getroffen, um so den Profit der Reisebüros zu maximieren, und hätte anschließend die Mitteilungen automatisiert verschickt. An der kartellrechtlichen Beurteilung des Falls würde das wenig ändern. Bei komplexeren Systemen wird sich die Verantwortlichkeit schwerer zuordnen lassen. Man könnte dann rechtlich darauf abstellen, wer die Gefahr für die autonome Entscheidung des Systems gesetzt hat.

Preisabsprachen mithilfe von IT-Systemen sind und waren schon mehrmals Gegenstand von Kartellverfahren. So haben acht US-amerikanische Fluggesellschaften bereits zwischen 1988 und 1992 ihre Preise abgesprochen, indem sie sich ihre beabsichtigten Flugtarife über das Computersystem der Airline Tariff Publishing Company mitteilten. Bei einem weiteren US-Kartell sprachen Anbieter von Postern ihre Verkaufspreise auf Amazon Marketplace ab. Sie verwendeten Software mit speziellen, eigens programmierten Preisalgorithmen, um Änderungen ihrer jeweiligen Verkaufspreise zu koordinieren. Derzeit ist in den USA eine Kartellsammelklage gegen den Vorstandsvorsitzenden des Fahrtenvermittlers Uber anhängig. Die Kläger argumentieren, der Uber-Preisalgorithmus beschranke den Preiswettbewerb zwischen den einzelnen Fahrern, unter anderem mit gleichzeitigen Preiserhöhungen (sog. surge pricing). Entscheidend fur den Verfahrensausgang wird sein, wie das Gericht in der „sharing economy“ das Verhaltnis zwischen den Leistungsanbietern und dem Vermittler und zwischen den Leistungsanbietern untereinander einordnet.

Praxishinweis

Für die Praxis empfiehlt es sich, bei gemeinsam mit Wettbewerbern genutzten IT-Systemen besonders auf die kartellrechtliche Compliance zu achten. Das gilt für Software von Drittanbietern und erst recht für Software, die an Wettbewerber oder von Wettbewerbern lizensiert wird. Die Zugriffsrechte und Verantwortlichkeiten sind klar zu definieren und – ebenso wie technische Änderungen – zu dokumentieren.

Damit alleine ist es jedoch nicht getan: Dass der Lizenzvertrag dem Softwareanbieter Eturas keine Rechte zur Preisgestaltung einräumte, entlastete die Reisebüros nicht. Ihnen wird womöglich der falsche Umgang mit eingehenden Informationen zum Verhängnis. Unternehmen sollten dagegen vorbeugen: Einmal eröffnete Kommunikationswege müssen überwacht werden; und die Mitarbeiter bedürfen eines (ggf. mit Schulungen zu schaffenden) kartellrechtlichen Problembewusstseins. In einem Fall wie „Eturas“ spielt es für die kartellrechtliche Verantwortlichkeit im Übrigen keine Rolle, ob der IT-Auszubildende oder die Vertriebsleiterin die Mitteilung abruft.

Bei Fragen zu diesem Thema, kontaktieren Sie bitte: Christoph Heinrich

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