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Dynamische Tarifanwendung bis in alle Ewigkeit oder Statischstellung durch Betriebsübergang?

Bundesarbeitsgericht vom 18. Juni 2015 – 4 AZR 61/14

Sachverhalt: Der Arbeitnehmer war zunächst bei einem kommunalen Krankenhaus angestellt. Der Arbeitgeber war tarifgebunden, auf das Arbeitsverhältnis fand der Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes (BMT-G II) in seiner jeweiligen Fassung Anwendung. Das Krankenhaus ging im Wege mehrerer Betriebsübergänge auf die heutige Arbeitgeberin über, einen privaten, nicht tarifgebundenen Betreiber. Die Arbeitgeberin geht davon aus, nach dem Betriebsübergang die Tariferhöhungen nicht mehr weitergeben zu müssen. Der Arbeitnehmer begehrt die Anwendung des jeweils gültigen kommunalen TVöD-Abschlusses.

Entscheidung: Nach der Rechtsprechung des BAG handelt es sich bei Bezugnahmeklauseln in Arbeitsverträgen, die ab dem 1. Januar 2002 abgeschlossen wurden, in der Regel nicht mehr um bloße Gleichstellungsabreden (d. h. die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer eines Unternehmens werden so gestellt wie die Gewerkschaftsmitglieder eines Unternehmens), sondern um echte dynamische Bezugnahmeklauseln (d. h. um einen eigenen Anspruch auf die Anwendung des jeweils aktuellen Tarifabschlusses unabhängig von der Tarifbindung). Damit tritt, so das BAG nach bisheriger Rechtsprechung, durch einen Betriebsübergang auf einen nicht tarifgebundenen Erwerber keine Statischstellung mehr ein.

Diese Rechtsprechung hatte das BAG auch nach der Entscheidung „Werhof“ des EuGH vom 9. März 2006 (C-499/04) zunächst beibehalten. Im Jahr 2013 entschied der EuGH dann in seiner Entscheidung „Alemo-Herron“ (vom 18. Juli 2013 – C-426/11) erneut, dass bei einem Betriebsübergang nach Europarecht auch Erwerberinteressen zu berücksichtigen sind und ein Erwerber zumindest dann nicht an öffentlich-rechtliche Tarifabschlüsse nach dem Erwerb gebunden werden kann, wenn er nicht die Möglichkeit hat, durch Verbandsmitgliedschaft auf die Tarifabschlüsse Einfluss zu nehmen. Nach dieser Entscheidung des EuGH sah sich das BAG daran gehindert, seine bisherige Rechtsprechung ohne Vorlage an den EuGH aufrechtzuerhalten und legte dem Gericht die Sache im Wege des Vorabentscheidungsersuchens vor. Die Vorlagefragen sind ersichtlich vom Willen zur Beibehaltung der bisherigen Rechtsprechung geprägt.

Konsequenzen für die Praxis: Bis zu einer Entscheidung des EuGH und ggf. einer darauf basierenden Entscheidung des BAG herrscht weiter erhebliche Rechtsunsicherheit. Für die Erwerber von Unternehmen, insbesondere solchen, die sich ehemals in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft befunden haben, ist eine Prognose der zu erwartenden Lohnkosten und damit die Kaufpreiskalkulation nur schwer möglich. Setzt sich das BAG mit seiner Vorstellung durch, sind Erwerber bezüglich der übernommenen Arbeitnehmer auf Dauer an die Tarifentwicklung des öffentlichen Dienstes gebunden. Greift der EuGH zum Schutz der privatwirtschaftlichen Erwerber ein, endet zumindest die Bindung an die Tarifentwicklung ab dem Betriebsübergang. Durch „Nullrunden“ können private Erwerber dann eigene auf sie zugeschnittene Vergütungsmodelle für alle Arbeitnehmer einführen.

Praxistipp: Arbeitgeber, insbesondere solche, die mittels Betriebsübergang Betriebe oder Unternehmen aus dem öffentlichen Sektor übernommen haben, können mit Blick auf die offene Rechtslage und daher auch offene Zahlungsverpflichtung, zunächst die Gehälter der betroffenen Mitarbeiter statisch stellen und eine Entscheidung abwarten. Auf diesem Weg lassen sich bei einer positiven EuGH- bzw. BAG-Entscheidung bereits jetzt Einsparungen vornehmen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das BAG derzeit eher unwillig scheint, seine Rechtsprechung zu ändern. Das bedeutet: Kommt nicht eine eindeutige „Ansage“ vom EuGH, wird das BAG die momentane Rechtsprechung eher beibehalten. Arbeitgeber müssen angesichts dieses Risikos sorgfältig abwägen, ob die möglichen Einsparungen in einem Verhältnis zu den dadurch verursachten Problemen (hohe Rückstellungen, mögliche Klagen, Unmut in der Belegschaft) stehen.

Bei Fragen zu diesem Thema kontaktieren Sie bitte: Dr. Anne Praß

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