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Außerordentliche Kündigung wegen sexueller Belästigung durch Griff in Genitalen eines Kollegen

Bundesarbeitsgericht vom 29. Juni 2017 – 2 AZR 302/16

Sachverhalt

Arbeitnehmer und Arbeitgeber streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen und hilfsweise einer ordentlichen Kündigung. Der Arbeitnehmer ist 1970 geboren und bei der Beklagten bereits seit 1991 tätig. Im Oktober 2014 griff der Mitarbeiter einem Leiharbeitnehmer von hinten in den Genitalbereich und machte anschließend die Bemerkung, letzterer habe „dicke Eier”. Das Unternehmen kündigte nach Anhörung der Beteiligten und des Betriebsrats fristlos und später vorsorglich ordentlich ohne vorherige Abmahnung. In seiner Klage gab der Arbeitnehmer an, er habe den Kollegen lediglich unabsichtlich berührt. Ähnliche Vorfälle im Betrieb seien nicht mit Kündigungen geahndet worden. Der Arbeitgeber hingegen stufte das Verhalten als sexuelle Belästigung und damit als eine schwerwiegende Pflichtverletzung ein, die eine außerordentliche Kündigung rechtfertige. Die Vorinstanz hatte die außerordentliche und ordentliche Kündigung für unwirksam gehalten. Sie meinte, eine Abmahnung sei vorrangig in Betracht zu ziehen gewesen.

Die Entscheidung

Das BAG hob die Entscheidung auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung zurück. Der Arbeitnehmer habe gegen die ihm obliegende Pflicht zur Rücksichtnahme auf das Interesse des Arbeitgebers an der beeinträchtigungsfreien Zusammenarbeit im Betrieb verstoßen. Ferner stelle die Handlung eine sexuelle Belästigung dar, selbst wenn diese nicht sexuell motiviert sei. Die subjektive Wahrnehmung des Handelnden sei nicht entscheidend, sondern vielmehr, dass das Verhalten dazu führt, die Würde der betroffenen Person zu verletzen, und dass objektiv erkennbar ist, dass dieses Verhalten unerwünscht ist. Das Verhalten sei geeignet, einen wichtigen Kündigungsgrund darzustellen. Das BAG konnte bei der für die Beurteilung der Wirksamkeit der Kündigung erforderlichen Interessenabwägung keine abschließende Wertung vornehmen. Insbesondere bleibt offen, ob eine Änderung der Verhaltensweise des Arbeitnehmers für die Zukunft ausgeschlossen und die erstmalige Hinnahme dieses Verhaltens nach objektiven Maßstäben für das Unternehmen unzumutbar ist. Ob der Mitarbeiter zuvor hätte abgemahnt werden sollen, konnte das Gericht nicht abschließend entscheiden.

Konsequenzen für die Praxis

Das BAG rückt mit diesem Urteil vom sog. „Prognoseprinzip” und dem „Vertrauenskapital” ab. Die Gerichte haben bislang zur Frage der Erforderlichkeit eines milderen Mittels im Vergleich zur Kündigung eine Zukunftsprognose für das Arbeitsverhältnis erstellt und danach entschieden, ob z.B. eine Abmahnung des Verhaltens bereits erfolgversprechend gewesen wäre oder ob dies aufgrund anhaltender Störungen nicht unbedingt zum gewünschten Erfolg geführt hätte. In der Entscheidung des BAG zur medienwirksamen Kündigung einer Kassiererin wegen Unterschlagung zweier Pfandbons in Höhe von EUR 1,30 („Emmely”) wurde außerdem das sog. „Vertrauenskapital” des Arbeitnehmers in den Fokus gerückt. Nach dieser Entscheidung hatte die Mitarbeiterin ein „Vertrauenskapital” angespart, da das Arbeitsverhältnis für lange Jahre ungestört verlaufen war. Das Vertrauenskapital war auch nicht durch den einmaligen Vorfall vollständig verbraucht worden. In der hier vorliegenden Entscheidung kommt es dem BAG aber weder auf eine Wiederholungsgefahr des Verhaltens für die Zukunft an, noch führt die lange Betriebszugehörigkeit zu einer erhöhten Schutzwürdigkeit des Arbeitnehmers. Vielmehr bezieht das Gericht vergangene Störungen des Arbeitsverhältnisses, die aber keine Abmahnung auslösten, in die Überlegung zur Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Kündigung mit ein.

Praxistipp

Im Ergebnis bleibt es aber dabei, dass Arbeitgeber gut beraten sind, ein entsprechendes Verhalten im Zweifel abzumahnen. Es bleibt abzuwarten, ob das BAG diese Ausrichtung seiner Entscheidung weiterverfolgt. Ungeachtet dessen kann eine schwerwiegende Vertragsverletzung des Mitarbeiters noch immer eine Kündigung ohne vorherige Abmahnung rechtfertigen, sofern die erstmalige Hinnahme offensichtlich und objektiv unzumutbar ist. Eine schwerwiegende Vertragsverletzung stellt insbesondere strafbares Verhalten dar, das sich gegen Arbeitskollegen oder den Arbeitgeber richtet, wie beispielsweise die Nötigung des Arbeitgebers durch Drohung mit rufschädigenden Aussagen oder Körperverletzungshandlungen.

Wenn Sie Fragen zu diesem Thema haben, wenden Sie sich bitte an Frau Nadine Kirchner.

Hinweis: Dieser Beitrag ist bereits in etwas abgeänderter Form in DER BETRIEB, 42/2017, S. 2486 erschienen.

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Aktuelles Arbeitsrecht Außerordentliche Kündigung Kündigungsgrund Kündigung Sexuelle Belästigung